G. P. Marchal: Gustloff im Papierkorb

Cover
Titel
Gustloff im Papierkorb. Ein Forschungskrimi


Autor(en)
Marchal, Guy P.
Erschienen
Baden 2019: hier + jetzt, Verlag für Kultur und Geschichte
Anzahl Seiten
360 S.
von
Aram Mattioli, Historisches Seminar der Universität Luzern

Drei Monate vor seinem Tod überraschte der angesehene Mediävist Guy P. Marchal Fachwelt und Publikum mit einem «Forschungskrimi», dessen Handlung in der Grenzstadt Basel während des «Dritten Reiches» angesiedelt ist. In seinem Werk hatte die Zeitgeschichte bislang nie eine eigenständige Rolle gespielt und lediglich im Kontext der Gebrauchsgeschichte von alteidgenössischen Mythen und schweizerischen Identitätskonstruktionen überhaupt interessiert. Doch in seinem letzten Buch nimmt Marchal den Leser, die Leserin auf eine zeitgeschichtliche Spurensuche mit, die in ihrer dokumentarisch präzisen Machart an Niklaus Meienbergs Buch Die Welt als Wille und Wahn (1987) erinnert.

Eine Hauptrolle spielt in Marchals Buch der windige deutsche Textilkaufmann Max Saurenhaus und dessen Verwicklungen in die nationalsozialistischen Umtriebe in der Schweiz. Früh schon engagierte sich dieser als Mitglied und Kassenwart der Basler Ortsgruppe der NSDAP. Seit 1931 Parteimitglied, diente er sich Wilhelm Gustloff mehrfach an, der von Davos aus die Landesgruppe Schweiz der NSDAP führte. Saurenhaus war der Kompagnon und Schwager von Paul Marchal, dem Vater des Autors. Allerdings geht es Guy Marchal in seiner letzten Publikation nicht so sehr um eine historische Aufarbeitung der Ortsgruppe Basel der NSDAP / AO. Am Bespiel seines «Nazi-Onkels» und seiner Machenschaften will er interessierten Laien vielmehr aufzeigen, wie aus zufällig überlieferten Überbleibseln der Vergangenheit nach einem zumeist chaotisch verlaufenden Forschungsprozess schliesslich eine wissenschaftliche Veröffentlichung entsteht. Charmant lädt er dazu ein, ihm bei seinem «work in progress» über die Schultern zu schauen.

Mit viel erzählerischem Talent macht der leidenschaftliche Historiker aus der Not, dass die Überlieferungslage zur Familiengeschichte und zur Basler Ortsgruppe der NSDAP dürr ist, eine Tugend. Quellenlücken füllt er mit dem aus, was er «kontrollierte Fiktion» (S. 128) nennt. «So viel Fantasie in die Fiktion eingeflossen ist, sie bemüht sich immer um Plausibilität» (S. 18), umschreibt er seine spezifische Methodik. Und das gelingt ihm über weite Strecken. «Gustloff im Papierkorb» ist in drei Teile gegliedert. Im ersten Teil, der die Zeit zwischen 1816 und 1941 behandelt, wird die Geschichte der aus dem Dorf Bassenge im Königreich Belgien stammenden Familie Marchal rekonstruiert. In der Mitte der 1860er Jahre zog die Familie in die Stadt am Rheinknie, um dort ihr Glück zu versuchen. In Basel absolvierte der Grossvater des Autors eine Lehre als Kaufmann, die es ihm auch als Katholiken in der protestantisch dominierten Stadtgesellschaft ermöglichte, bis zum Inhaber einer Seidenhandelsfirma aufzusteigen, die schliesslich von Paul Marchal übernommen wurde. Die Firma war im Zwischenhandel von Rohseide und Seidenabfällen zwischen Anbietern in China, Japan und Indien und Spinnereien in Frankreich, Deutschland, Belgien, Grossbritannien und der Schweiz tätig.

Im Unternehmen arbeitete auch Max Saurenhaus, der sich auf den Handel mit der neu entwickelten Kunstseide spezialisierte und vor allem das Deutschlandgeschäft betreute. Auffallend oft war dieser nach 1933 auf Geschäftsreise in Deutschland, was Paul Marchal, der 1918 die Schweizer Staatsbürgerschaft erworben hatte und in der Kavallerie Militärdienst leistete, zunehmend misstrauisch machte. Bei einer dieser Abwesenheiten fand Marchal im Papierkorb des gemeinsamen Kontors Schnipsel von Briefen, die er zuerst wieder mühsam zusammenkleben musste, bevor er den Inhalt lesen konnte. Sie lieferten den Beweis, dass Saurenhaus mit Wilhelm Gustloff, aber auch mit Parteistellen im Reich in engem Austausch stand. Das stürzte Marchal in ein Dilemma. Was sollte er als Mensch und «Patriot» jetzt tun? Saurenhaus war ja der Mann seiner Schwester und auch sein Geschäftspartner. Er entschied sich dazu, das Eidgenössische Politische Departement in Bern anonym über seinen Fund in Kenntnis zu setzen. Akribisch wird im zweiten Teil rekonstruiert, wie es Max Saurenhaus 1945 mit der tatkräftigen Hilfe des ehemaligen katholisch-konservativen Regierungsrates Rudolf Niederhaus gelang, eine gegen ihn bereits ergangene Ausweisungsverfügung wegen nationalsozialistischer Umtriebe rückgängig zu machen. Dabei kommt das vom Sozialdemokraten Fritz Brechbühl geleitete Polizeidepartement nicht vorteilhaft weg. Der dritte Teil dreht sich um den Gestapo- und Geheimdienstagenten Max Boese, der 1942 in engem Kontakt mit Saurenhaus stand. Boese war in Finanztransaktionen zwischen der Schweiz und dem Reich verwickelt, was Guy Marchal vermuten lässt, dass Saurenhaus als Geldkurier auch SS-Vermögen in die Schweiz verschoben habe. Die Jagd nach immer neuen Quellen führte den Autor schliesslich dahin, wo er anfänglich gar nicht hin wollte. Denn ursprünglich war eine Hommage an Paul Marchal geplant, der exemplarisch für die «Haltung jener widerständigen Generation» einfacher Bürger steht, die sich von der Politik der offiziellen Schweiz unterschied, die gegenüber dem mächtigen Grossdeutschland lange kühl berechnend lavierte.

Guy Marchal war ein Historiker, in dessen Brust auch ein Schriftsteller schlummerte. Dennoch legt der Mittelalterhistoriker keinen dokumentarischen Roman vor. Gustloff im Papierkorb ist ein vielschichtiges Werk, eine Mischung aus plausiblen Geschichten und wissenschaftlichen Rekonstruktionen, die interessante Einblicke in ein wenig bekanntes Stück der Basler Gesellschaftsgeschichte ermöglichen. Die eingestreuten Grundlagenreflexionen zum historischen Metier, etwa die Aufforderung, dass es Aufgabe jeder Forscherin, jedes Forschers sei, der Vergangenheit ihre Zukunft zurückzugeben, verleihen dem Text seinen eigentlichen Zauber. Freilich spielt kontrollierte Fiktion in grösseren oder kleineren Dosen verabreicht, auch wenn das nicht alle Fachkollegen gleichermassen gerne hören, in jedem Forschungsprozess eine Rolle. Gerade heute, in einer Zeit, in der Geschichte in vielen Ländern Europas schamlos instrumentalisiert wird, kann es nicht schaden, sich von Guy Marchal daran erinnern zu lassen: «Die ‹Geschichte› ist kein Gericht, sie ist eine Investigativinstanz. Sie deckt auf, was verborgen war oder verkannt worden ist; sie ruft in Erinnerung, was aus irgendeinem Grund – manchmal ganz bewusst – dem Vergessen anheimgestellt worden ist; sie überprüft, was als gängige historische Anschauung daherkommt; sie sucht neue Wege zu historischer Erkenntnis. Und sie präsentiert ihre Erkenntnisse in neuen Erzählungen und in aktualisierten Würdigungen» (S. 142).

Zitierweise:
Mattioli, Aram: Rezension zu: Marchal, Guy P.: Gustloff im Papierkorb. Ein Forschungskrimi, Baden 2019. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 70 (3), 2020, S. 500-501. Online: <https://doi.org/10.24894/2296-6013.00071>.

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